Die Trageerschöpfung - Was bedeutet das eigentlich?
- Patricia Kestel
- 7. März 2023
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 22. Sept.
Derzeit ist sie in aller Munde - die Trageerschöpfung.
Es wird aktuell so viel darüber geschrieben und berichtet, daß ich mir eigentlich gesagt habe, daß ich nun nicht auch noch meine Meinung dazu geben muß.
Da vieles, was die Diagnose angeht, sehr richtig dargestellt wird, allerdings die therapeutischen Maßnahmen eher fragwürdig zu betrachten sind, möchte ich nun doch etwas Klärendes dazu sagen.
Vorab möchte ich deutlich betonen, dass nicht jedes Pferd, daß etwas untrainiert oder in unpassenden Fütterungszustand daher kommt, zwangsweise auch immer eine Trageerschöpfung hat!
Aktuell hat sich ein solcher Hype darum gebildet, dass Anbieter von "Anti-Trageerschöpfungsprogrammen" gerne jedes Pferd in diese Schublade stecken, ohne genauer hinzuschauen. Mit der Angst der Besitzer lässt sich bekanntlich auch gutes Geld verdienen.
Und Methoden, die am Pferd herumdoktorn, waren schon immer deutlich ertragreicher, als die, die sich auf die Ausbildung des Reiters konzentrieren...
Aber nun weiter zur Sache: dem ein oder anderen ist vielleicht mittlerweile bekannt, daß es sich bei der Trageerschöpfung um ein Absacken des Brustkorbes zwischen den Schulterblättern nach unten handelt.
Wie kann dies passieren?
Wir schauen erst einmal nur die muskuläre und knöcherne Situation an, die dies bei einem Pferd überhaupt zuläßt.
Der Brustkorb des Pferdes ist rein muskulär, mit Faszien- und Bandstrukturen zwischen den Schulterblättern an den vorderen Gliedmaßen befestigt. Dem Pferd fehlt hier also die sehr feste knöcherne und stabilisierende Struktur eines Schlüsselbeins.
Der Brustkorb mit seinen Rippenbögen besitzt dann allerdings wieder eine recht stabile Verbindung zur Wirbelsäule.
Durch diese nachgiebigen Strukturen zwischen den Schulterblättern ist es möglich, daß diese durch ständige Überlastung und Überstrapazierung muskular ermüden und der vordere Teil des Brustkorbes peu á peu nach unten durchsackt.
Dadurch, daß aber die Rippen relativ fest mit der Wirbelsäule verbunden sind - sie liegen in kleinen Gelenken, die mit festen Bändern gehalten werden, in den Wirbelkörpern und lassen nur kleine Bewegungen zu - wandert natürlich auch die Wirbelsäule in diesem Bereich mit nach unten.
In der Folge wird der Widerrist flacher zwischen den Schulterblättern, weil natürlich die Wirbelkörper mit ihren langen Dornfortsätzen am Widerrist nach unten verschwinden.
Die letzten Halswirbel sacken ebenfalls nach unten ab, weshalb der Ansatz des Halses tief kommt und das Pferd dadurch den Unterhals betont.
Das Brustbein senkt sich und ist seitlich deutlich zu sehen.
Nach hinten verändert sich die Lage der Rippenbögengelenke in den Wirbelkörpern. Die Rippen werden etwas aufgespreizt, weshalb das Pferd "bauchiger" aussieht.
Der Lendenbereich verändert seinen Winkel nach vorne ebenfalls nach unten, wodurch das Kreuzbein dahinter eher angehoben und gestreckt wird. Der Sitzbeinhöcker kommt etwas nach oben. Durch die damit verbundene Veränderung in der Beckenposition kommt das Pferd eher mit einer nach hinten ausfallenden Hinterhand daher oder aber mit einer leicht steilen Hinterhand.
Durch diese komplett veränderte Körperposition sieht das Pferd gleichzeitig überbaut aus, die Vorderbeine wirken kürzer und weil der Widerrist nach unten verschwindet, wirkt eben die Widerristposition niedriger im Verhältnis zur Kruppe.
Durch die Veränderung im Knochengerüst bauen sich in Folge auch die Muskeln um.
Am Hals werden die Unterhalsmuskeln herausgearbeitet. Auf der Oberseite verschwinden die Trapezmuskeln hals- und rückenseitig, so daß das Pferd leichte Kuhlen vor und hinter dem Schulterblatt aufweist.
Die Brustmuskeln bilden sich deutlich aus und treten stark hervor. Rückenmuskeln bilden sich nur langsam oder gar nicht heraus.
Die Kruppe wird eckig, die "Hosen" - der Semitendinosus - bilden sich zurück. Insgesamt ergibt sich ein immer unrunderes Erscheinungsbild.
Jeder Reiter kann anhand oben beschriebener optischer Symptome an seinem Pferd erkennen wie es körperbaulich dasteht.
In einem sehr frühen Stadium erkennt man das Problem aber vielleicht nicht sofort.
Weitere Symptome und Hinweise.
Folgende Hinweise sind wichtig und zu beachten:
Das Pferd läßt sich nicht gerne satteln (Sattel-/Gurtzwang)
Das Pferd hat mehr Freude an der Bodenarbeit, zeigt aber große Unlust beim Reiten
Beim Reiten wird es öfter als seinem Temperament angemessen, hektisch und läßt sich leichter stressen.
Möglicherweise reagiert es aus nichtigem Grund beim Reiten urplötzlich panisch, bockt ggf. sogar solange bis der Reiter unten liegt.
Es läßt sich schwer stellen und biegen und hat Probleme mit der Genicknachgiebigkeit.
Es geht ungern und wenig vorwärts, wird triebig.
Oder das Gegenteil: es fängt das Rennen und Eilen an und läßt sich schwer halten.
Es stolpert öfter und/oder tritt sich in die Ballen vorne.
Eine ordentliche Versammlung wird unmöglich.
Das Pferd löst und lockert seine Muskeln nicht mehr.
Muskeln bauen an den falschen Stellen auf.
Die Hufe verformen sich: z.B. kann die Zehe vorne sich unnatürlich verlängern.
Chronische oder diffuse auch immer wieder kehrende Lahmheiten treten auf.
Sehnen- und Gelenkprobleme.
Chronische Muskelschmerzen.
Taktunreinheiten sind auch eine Folge davon.
Husten beim Training.
Da ich unglaublich viel Unsinn zu den Anzeichen einer Trageerschöpfung lese, möchte ich an dieser Stelle unbedingt einmal darauf hinweisen, dass nicht alle Verhaltensweisen und -anomalien und nicht jedes Zipperlein Diagnose "Trageerschöpfung " bedeutet.
Husten kann ein Zeichen sein, es ist aber sehr gut möglich, dass der Husten eine andere Ursache hat und es wäre grob fahrlässig hier weitere Untersuchungen zu unterlassen!
Auch Flehmen, Gähnen, Anrempeln, Nicht-Still-Stehen-Können, Schnappen, nach der Gerte kicken, beim Hufschmied zappeln, Schwanz nach links oben unten rechts tragen, Schweifkreiseln, Ausschachten bei der Bodenarbeit, viel und wenig fressen, häufig blinzeln, gar nicht blinzeln, viel Pipi, wenig Pipi, Kotwasser, Verstopfung, viel pupsen, wenig pupsen, kein Bock auf Reitplatz, kein Bock auf Gelände, mit dem Putzzeug spielen, mag das Gebiss nicht, mag meinen Mann nicht usw. usw. usw. - all das kann tausend Gründe haben, aber nicht jede Lebensäußerung deines Pferdes hat etwas mit Trageerschöpfung zu tun!
Wenn du außerdem kein ausgebildeter Trainer, Tierarzt, Tierheilpraktiker, Pferdephysiotherapeut und wenn du vielleicht noch nicht einmal ein ausgebildeter Reiter bist, der fehlerfrei beschreiben kann was Schulterherein bedeutet und wozu es dient, was genau Versammlung ist etc., dann möchte ich eindringlich davor warnen, an Pferden irgendwelche Diagnosen zu stellen! Die Folgen solcher Laien-Diagnosen können fatale Folgen haben und es ist dem Tier gegenüber verantwortungslos, sich als Un-Wissender darüber hinweg zu setzen.
Aber weiter im Text:
Ist das Pferd erst einmal körperlich in dieser Art umgebaut und umgeformt, kann es sich nicht mehr locker und frei bewegen, geschweige denn einen Reiter tragen.
Darüber hinaus kann es sich in diesem Zustand auf keinen Fall mehr schadfrei tragen und bewegen. Sämtliche Gelenke, Sehnen und Bänder sind in einer dauerhaften Fehlbelastung und Schäden an den sämtlichen Strukturen sind garantiert vorprogrammiert.
Wie man sich anhand der Beschreibung vorstellen kann, ist dies ein Prozess, der sich schleichend einstellt und oft bemerkt man den Zustand erst, wenn die Situation sich schon extrem darstellt.
Wie kommt solch eine Trageerschöpfung zustande?
Es gibt viele Ursachen, aber als Haupt- und am meisten verbreitete Ursache ist leider, leider
das falsche Training zu nennen,
namentlich das Vorwärts-Abwärts-Reiten bzw. jegliches Reiten, das mit zu tief eingestelltem Pferd zuviel Gewicht auf die Vorhand bringt.
Ich muß hier einmal anmerken wie unglaublich hartnäckig sich Bilder als positiv eines vermeintlich korrekten Reitens halten, die nach den physikalischen und biomechanischen Gesetzen über kurz oder lang nur zu Schäden am Pferd führen können. Unvermeidlich. Immer. Garantiert.
Ich unterhielt mich neulich mit einer Verfechterin der tensegralen Arbeit und des Vorwärts-Abwärts-Reitens. Sie bemerkte, dass ihrer Beobachtung nach, die man überall in den Reitställen tun könnte, 90% der Pferde an einer Trageerschöpfung "litten".
Eine hohe Kopf-Hals-Position sei nicht förderlich für einen positiven Muskelaufbau. Nur Vorwärts-Abwärts fördere das Pferd.
Ich bestätigte ihre Ansicht, daß zumindest diese Menge muskulär schlecht ausgebildet sei.
Aber! Es ist zugleich die Bestätigung, dass diese Fehlbelastung durch Vorwärts-Abwärts-Reiten mit verursacht wird. Denn wir sind uns doch sicher alle einig darüber, daß in fast allen Reitställen zu 99 % mit tief eingestelltem Kopf/Hals geritten wird. Oder gibt es bei euch am Stall jemand, dessen Pferd Kopf und Hals beim Reiten aufrecht tragen (egal ob richtig oder falsch ausgeführt)?
Den Umkehrschluss können wir auch gerne führen: da an der Mehrzahl der Reitställe die überwältigende Minderheit mit hoher Kopf-Hals-Haltung reitet, müsste es doch extrem wenig Fälle an Trageerschöpfung geben, würde nur diese Haltung dies verursachen.
Schreibt aber auch gern was dazu in die Kommentare.
Mir persönlich ist es schleierhaft, daß trotz der Erkenntnisse immer noch an den biologischen und physikalischen Gesetzmäßigkeiten vorbei gearbeitet wird. Und das wider besseren Wissens.
Ein Pferd, daß nach vorne tief geritten wird, kann und wird niemals seinen Widerrist zur Entlastung der Vorhand anheben können. Das ist per Naturgestz nicht möglich. Im Gegenteil, es wird vorne mehr und mehr belastet und bekommt per Naturgesetz eine Überlastung der Vorhand (= Vorderbeine+Widerrist+Brustkorb+Hals) verpaßt.
Zur Erklärung und zum Verständnis dazu weiter unten noch etwas mehr.
Weitere Ursachen können sein:
Stuten, die ohne Training viele Fohlen austragen mußten.
Pferde, die sehr lange stehen, nicht gearbeitet werden und dabei tendenziell eher zu reichlich Futter bekommen.
Veranlagung zu Bänderschwäche und generell schwachem Bindegewebe
Dinge, die eine Trageerschöpfung außerdem begünstigen sind:
Falsch angepaßte Sättel
Falsche oder schlechte Hufbearbeitung
Falsche (diesem Pferd nicht entsprechende) Haltungsbedingungen
Spätestens dann also, wenn das Pferd körperlich deutlich dem oben beschriebenen Schema entspricht, MUSS der Reiter die Reißleine ziehen und Gegenmaßnahmen ergreifen.
Ich persönlich verurteile keinen Reiter oder zeige mit dem Finger auf ihn, wenn er solch ein Pferd besitzt.
Jedem kann das passieren, alle sind nur Menschen, Fehler zu machen ist total normal, viele Dinge passieren und entwickeln sich ja eh aus Unwissenheit.
Manchmal kauft man ein Pferd "gebraucht" und hat vielleicht auch nicht gleich wahrgenommen, daß das Pferd schon in einer soliden Trageerschöpfung steckt.
Das ist alles kein Thema und niemand muß im Erdboden versinken mit so einer Diagnose.
Problematisch wird es aus meiner Sicht aber, wenn man in dem gleichen Stiefel weitermacht und nur an einzelnen Symptomen rumdoktort.
Es ist hier ein komplettes Überdenken der bisherigen Maßnahmen und Methoden vonnöten.
Macht man das nicht, wird man früher oder später ein unreitbares Pferd mit andauernden Krankheitsbildern bekommen. Garantiert!
Die gute Nachricht ist, dass man das Pferd mit gutem Training aus seiner falsch eingestellten Körperhaltung wieder herausholen kann.
Es erfordert ein gutes Programm und viel Geduld, denn der Prozess kann sich über Monate, wenn nicht gar Jahre hinstrecken.
Wie man das anstellt und was die Grundvoraussetzungen dafür sind, kannst du hier nachlesen.
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