Durch die Augen deines Pferdes sehen..
- Patricia Kestel
- 6. Dez. 2021
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 28. Feb. 2022
Habt ihr euch mal vorgestellt, ihr würdet mal in euer Pferd schlüpfen und aus seinen großen Augen die Welt, die es umgibt, anschauen? Mit seinem Maul und seinen weichen Lippen fühlen? Mit seiner Zunge schmecken und seiner Nase riechen? Oder mit seinen Ohren hören? Was würdet ihr wahrnehmen?

Ich kenne wenige Menschen, die das tun. Bei den meisten, die sich diese Mühe machen, hört dieses Einfühlen bei den Bedürfnissen wie Futter und Koppelgang auf.
Wie sieht es bei dir aus? Ganz ehrlich, … Wir sind hier unter uns… Was denkst du, was dein Pferd fühlt, wenn es auf der Koppel ist, wenn es geputzt wird, wenn es geritten wird?
Willst du dein Pferd wirklich verstehen? Willst du, daß es dein Freund wird? Dann macht es durchaus Sinn, sich mit seinen Sinnen zu beschäftigen und in seine Welt einzutauchen. So kann Verständnis entstehen. Und nur so! Das Pferd kann uns zwar auch lesen und dadurch etwas verstehen, es ist jedoch natürlicherweise eingeschränkt, da es keine Vorstellung von unserer Zivilisation, Sprache und Worte hat.
Schau dein Pferd genau an? Wer also steht da vor dir?
Ein kräftiges Lauftier, darauf programmiert ca. 20 km am Tag im Schritt auf der Suche nach seinem geliebten Gras unterwegs zu sein. Vielleicht mal ein paar Kräuter, Wurzeln oder Rinde zwischendurch. Dies findet es mit der feinen Nase und dem sensiblen Maul. Und weil es so sensible Lippen hat mit den unentbehrlichen Tasthaaren, kann es Halm für Halm gezielt zupfen, sortieren und Unbrauchbares liegen lassen. Da es leider alles, was sich direkt vor ihm befindet nicht sehen kann, sind eben diese Tasthaare so unentbehrlich. Seine Zunge hilft ihm dabei, die „guten“ von den „bösen“ Kräutern zu unterscheiden. Und wenn das Angebot reichlich ist, kann es die schlechten Kräuter stehen lassen.
Durch seinen Fast-Rundumblick ist es quasi immer im Bilde, was während des Essens so drumherum geschieht. Dafür sieht es nicht so gleichmäßig scharf - nach vorne etwas schärfer als zu den Seiten und nach hinten. Und wie schon gesagt, in dem Raum direkt vor der Nase und vielleicht etwas davor sieht es nichts. Es reagiert sehr sensibel auf Bewegungen, denn hinter ihm könnte sich der berühmte, pferdefressende Säbelzahntiger verstecken. Um sich vor dem in Sicherheit zu bringen, braucht es schnelle Reaktionen und Bewegungen, um einen größtmöglichen Abstand zwischen sich und den Tiger zu bringen.
Seine sensiblen Ohren unterstützen es dabei, ungewohnte Geräusche mit Flucht zu quittieren. Könnte ja wieder mal ein Säbelzahntiger dahinterstecken.
(Ich denke ja manchmal, daß sie vielleicht doch eine für Pferde gefährliche Form von Pumuckl erkennen können….. Aber zurück zum Ernst des Lebens.)
Das Pferdemotto lautet also - Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Deshalb - wenn der Säbelzahntiger in der Nähe ist - Kopf hochreißen für eine gute - nun scharfe - Fernsicht und dann mal losrennen. Für eine Weile. Gut, daß es so tolle harte Hufe hat, mit denen es den Untergrund fühlen kann und die es sicher tragen... Schließlich also mal stoppen und mit hohem Haupt noch mal kontrollieren, ob der Feind zurückgeblieben ist. Alles abgecheckt. Dann ausschnauben, entspannen und weitermachen mit grasen.
Auch wichtig: der plötzliche Wechsel der Gefühle. Von Null auf Hundert in zwei Sekunden um Schaden abzuwehren. ABER - auch in zwei Sekunden von Hundert auf Null wieder freundlich und friedlich, wenn alles in Ordnung ist.
Kannst du das auch? Da können wir uns sicher eine Scheibe abschneiden.
Auch gut, daß die Kumpels immer da sind. Das gibt Sicherheit. Und Körperkontakt zum Seelenwohl. Und Spaß und Spiel. Ein Matschbad, wenn der Pelz juckt - herrlich… Und Popo-Kratzen am Baumstamm - unbezahlbar…
Und ja - manchmal auch Ärger mit dem Chef. Aber das gehört dazu. Hat dein Pferd sich daneben benommen, bekommt es unverzüglich eine Rüge vom Herdenchef. Da sind sie untereinander auch nicht zimperlich. Es wird alles sofort und unmißverständlich klargestellt. Wenn Ohrzeichen nicht ausreichen, dann wird’s eben auch mal körperlich. Und wenn die Situation abgeklärt ist, dann sind alle auch sofort wieder freundlich zueinander.
Es ist wichtig, sich das bewußt zu machen. Dein Pferd versteht keinen antiautoritären Umgang. Es kann auch nicht verstehen, daß man über Probleme „redet“ und „diskutiert“ oder sie „wegstreichelt“. Das ist nicht seine Welt. Bitte nicht mißverstehen - ich meine nicht, daß du dein Pferd im Problemfall irgendwie sinnlos verprügeln sollst. Es ist nur dann angezeigt, Konflikte mit deinem Pferd auf möglichst pferdeähnliche Art zu lösen. Dann kann es sich bei dir sicher fühlen.
Wenn dein Pferd energetisch von dir nicht das bekommt, was es auch in der Herde erhält, kann es depressiv, mißtrauisch, scheu, apathisch werden.
Über Pferdeverhalten und vor allem seine Sprache gibt es so viel zu sagen. Da gibt es gute Literatur, die du dir bitte durchliest, wenn du viel mit Pferden umgehst (Empfehlungen siehe unten). Du möchtest ein guter und vor allem fairer Trainer für dein Pferd sein und das kannst du nur, wenn du lernst die Welt aus der Sicht deines Pferdes zu sehen und zu verstehen.
Ich frage dich noch eine Frage - wenn du gerade schon dabei bist, dir dein Pferd anzuschauen. Glaubst du, daß es so wie es gehalten wird, aber vor allem wie es trainiert wird und generell im Umgang mit dir, glücklich ist? Ganz ehrlich - du mußt es ja nur dir selbst beantworten.

Wenn du sein Auge anschaust - ist es groß, offen, lebendig, aufgeweckt? Sehen sie strahlend, klar und glücklich aus?
Oder doch vielleicht ein bißchen matt. Trüb. Deprimiert. Oder gibt es „Sorgenfalten“ über den Augen oder „Löcher“?
Und Maul-Nüstern-Partie? Eher angespannt? Schmale Nüster mit Falten darüber, festes, hartes Kinn? Oder entspannte Schlabberlippe und große, weiche Nüster?
Fiese Frage? Unangenehm? Sticht es irgendwo? Oder ist alles bestens? Es ist immer gut, für sich diese Fragen ehrlich zu beantworten. Das Pferd teilt sich dir auf stumme Weise mit. Vielleicht braucht es deine Hilfe, deine Unterstützung, eine Veränderung im Speise- oder Trainingsplan. Da es aber stumm kommuniziert, ist es umso wichtiger genau hinzuschauen.
Wie sieht der Rest aus?
Das Fell - glänzend und problemloser Fellwechsel? Oder struppig, stumpf, schwieriger Fellwechsel? Wie ist seine Körperhaltung und Bewegung?
Und noch einmal der Perspektivwechsel, mit dem dieser Artikel angefangen hat. Was meinst du - wie sieht dein Pferd dich? Mit welchen Worten würde es dich aus seiner Sicht beschreiben? Würde es dich als würdigen Pferde-Ersatz-Chef sehen und anerkennen? Bist du für dein Pferd berechenbar, verständlich, klar, authentisch?
Ich möchte dich mit diesen vielen Fragen zum Nachdenken anregen. Zum intensiven Beobachten von deinem Pferd und dir selbst, von eurem Umgang miteinander. Zum Einfühlen und Mitfühlen in und für den Status-Quo deines Pferdes. Wo steht dein Pferd, wo du, wo eure Beziehung? Wo seid ihr eben jetzt und wo möchtest du hin? Wie soll es in einem Jahr, in fünf, in zehn Jahren aussehen?
Vielleicht hast du Lust, das zu dokumentieren? Für dich. Alle paar Monate ein paar Bilder, ein kleines Video von deinem Pferd. Und natürlich von dir! Ein paar kleine Beschreibungen dazu, was passiert ist. Was hat sich verändert, was verbessert, was verschlechert (Immer schön ehrlich dabei, gell! Sonst kommst du nicht weiter)?
Du hast dieses kraftvolle Geschöpf des Windes adoptiert. Dies birgt eine große Verantwortung für sein Lebenswohl. Denn es wurde nie gefragt, ob es mit uns in unserer Zivilisation leben möchte. In einem kleinen Stall, auf einer umzäunten, berenzten Wiese. Zu dem Zweck, geritten und gefahren zu werden. Ob es sich sein Leben so vorgestellt hat? Nein, sorry, ich möchte dir nicht den Spaß verderben, sondern besonders stark ins Bewußtsein rücken, welche Verantwortung dein Pferd mit sich bringt.
Aber auch hier in der Zivilisation kann man sehr viel für sein Pferd tun. Pferdegerechte Ernährung und passend dazu möglichst Bewegung auf der Koppel zur Entspannung und das Seelenwohl. Adäquate Bewegung unter dem Sattel und vom Boden aus für die Fitness und Gymnastik. (Achtung!: Immer mit individuell angepaßtem Training). Eine gute Hufgesundheit ebenso wie eine beständige Zahnkontrolle mit entsprechender Korrektur. Und natürlich auch eine passende Ausrüstung, die auch immer kontrolliert wird, damit nichts drückt.
Und natürlich miteinander sein. Immer achtsam. Dann macht dir dein Pferd Geschenke, die mit Gold nicht zu bezahlen sind.
In diesem Sinne wünsche ich dir viel Freude durch dein Pferd. Patricia
Meine Buchempfehlung: "Die Sprache des Pferdes", Michael Schäfer
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